„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“, fragte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel. Er wollte damit zeigen, dass wir die Welt immer nur aus unserer eigenen Perspektive betrachten können. Wir fliegen nicht, haben kein angeborenes Echolot und hängen auch nicht von Höhlendecken. Wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein, können wir nicht wissen. Einfach deshalb, weil wir keine Fledermaus sind.
Interessant wird die Frage dann, wenn diese Regel auf das menschliche Miteinander angewandt wird.
Nehmen wir beispielsweise ein Fußball-Ländermatch. Der Zuschauer beobachtet den Spielverlauf und sieht die Spieler. Sowohl der Fan, als auch der Spieler auf dem Feld sind emotional aufgewühlt. Aber kann der Fan auf der Tribüne oder am Fernseher nachvollziehen, wie es ist, einer der Spieler zu sein?
Jeder hat seinen eigenen Blickwinkel
Ganz sicher kann er das nicht nachvollziehen. Denn seine Perspektive ist eine völlig andere. Das gilt sogar dann, wenn der Fan selbst begeisterter Fußballer ist und den Stress auf dem Rasen kennt. Auf der Tribüne aber ist er Zuschauer. Und damit befindet sich seine aktuelle Wahrnehmung im Modus des Zuschauers.
Oder nehmen wir ein Beispiel aus dem Straßenverkehr. Da treffen Radfahrer und Autofahrer ständig aufeinander. Nicht immer ist dieses Zusammentreffen freundlich. PKW-Fahrer schimpfen auf die Radler und diese ihrerseits auf die Autofahrer.
Wenn gegenseitiges Verständnis fehlt
Interessant wird es dann, wenn ein Autofahrer aufs Rad steigt – oder umgekehrt. Man sollte meinen, dass die Kenntnis beider Seiten zu rücksichtsvollerem und toleranterem Fahrverhalten führt. Wie wir alle wissen, ist das jedoch oft nicht der Fall. Der Grund dafür ist, dass die Welt für einen Autofahrer anders aussieht, als für einen Radler. Der Wechsel des Fortbewegungsmittels verursacht auch einen Wechsel der Perspektive und der Wahrnehmung.
Die Welt ist voller ähnlicher Beispiele. So nimmt ein Lehrer anders wahr, als ein Schüler, ein Experte anders, als ein Laie, Politiker anders als Bürger, Männer anders als Frauen, die jüngere Generation anders, als die ältere, und so weiter.
Der Esel-Effekt
Unangenehmerweise werden diese Unterschiede oft zu Problemfeldern und regelrechten Kampfzonen. Denn es ist eine menschliche Grundeigenschaft, denjenigen, den man nicht versteht, zunächst einmal reflexartig für einen Esel zu halten. Übertragen auf das Beispiel mit der Fledermaus – deren Perspektive wir nicht verstehen können, weil wir keine Fledermäuse sind – bedeutet das, dass wir kurzerhand Fledermäuse für weniger intelligent halten.
Dieser Reflex des Besser-Wissens ist uns allen eingebaut. Wer jedoch dabei stehen bleibt, der tut sich nichts Gutes. Denn er vergibt die Chance, etwas zu lernen. Lernen kann man nur dort, wo andere anders sind, etwas anderes wissen oder andere Erfahrungen haben.
Nicht-Lernen hingegen führt zur Stagnation und zur Erstarrung.
Wir wachsen nur an Unterschieden
In Tulln, in der „Stadt des Miteinanders“, gehen wir deshalb einen anderen Weg. Dieser besteht darin, anderes Denken, Fühlen und Wissen bereichernd und als Quelle persönlichen Wachstums zu begreifen und zu erleben. Dazu bedarf es der Fähigkeit, sich auf das Abenteuer einzulassen anderen zuzuhören. So lange zu fragen, bis man selbst nachvollziehen kann, was der oder die andere meint und wie diese Person zu dieser Ansicht gekommen ist.
Die dazu notwendige besondere Haltung hat als erster der antike Philosoph Sokrates beschrieben, der als Meister der Weisheit gilt. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“, sagte er. Denn niemand kann alles wissen. Aber von anderen kann man mehr erfahren, lernen und persönlich wachsen. Dies gilt nicht nur für Individuen. Dasselbe gilt für jede Gemeinschaft, jedes Unternehmen, aber auch für Gemeinden und Städte. In Tulln lernt die Stadt als Ganzes!
Danke, dass ihr uns gefragt habt!
Unlängst organisierte eine Gruppe von Älteren, um die 65, eine Gesprächsrunde mit Studenten in den frühen Zwanzigern. Die Älteren wollten erfahren, wie junge Menschen die aktuelle Welt tatsächlich erleben und wie es ihnen dabei in Wirklichkeit geht. Über Autorität wurde gesprochen, Respekt und Verantwortung. Es ergab sich ein viel besseres Bild von jungen Erwachsenen, als jenes, das die Medien uns unablässig präsentieren.
Am Ende der Veranstaltung bedankte sich einer der jungen Studenten mit den Worten: „Danke für diese Idee von Euch und danke dafür, dass Ihr uns gefragt habt!“ Dies war eine hohe Anerkennung aus jungem Mund. Andererseits ist es auch der Auftrag weiter zu fragen, mehr übereinander zu erfahren und im Dienste aller voneinander zu lernen. Genau das ist es, was man von der Fledermaus und vom weisen Sokrates lernen kann.
Der Blogartikel isz auch zu lesen unter:
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