Wenn Angèle Consoli, Psychiaterin am Pariser „Hôpital de la Salpêtrière“, von Träumen spricht, dann meint sie nicht die Nachtruhe. Sie spricht davon, wie Selbstvertrauen, Mut, Zuversicht, Sicherheit, Eigenverantwortung, das Gefühl, etwas bewirken zu können und auch Lebenssinn entstehen können.

Wir sind der Traum

In einem Interview sagte sie: „Kinder müssen träumen können und brauchen dafür unbedingt Erwachsene, die an eine Zukunft glauben". Was genau heißt das? Und gilt das wirklich nur für Kinder?

Jeder Mensch hat Vorstellungen von einer Zukunft. Ein Freund, der schon lange pensioniert ist, erzählte mir beispielsweise, dass er sich gerade für eine Sprachprüfung vorbereitet. Er will unbedingt in Französisch das Sprachniveau C1 erreichen. Andere träumen von einem Urlaub, einer besseren Arbeitsstelle, einer Erfindung, die sie machen wollen, von mehr oder weniger Freizeit, von einem Segelturn am Mittelmeer, von einem harmonischen Leben mit Familie und Freunden, oder von der Zucht von Aquarienfischen.

Träume erzeugen Wirkungen

Wer träumt, der hat eine Vorstellung davon, wohin er, oder sie, gehen will. Wovon geträumt wird ist dabei gar nicht so entscheidend. Wesentlich ist, dass diese Vorstellung überhaupt existiert. Denn, so sagte bereits der römische Philosoph Seneca: „Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den gibt es auch keinen günstigen Wind!“ Wer keine Träume hat, der ist den Winden des Schicksals schutzlos ausgeliefert und treibt steuerlos dahin.

Die Entdeckung der Lehrerin

Vor einiger Zeit wurde eine Schuldirektorin gefragt, was sie denn dazu meine, dass die Kinder nun Schuljahre verlieren würden. Sie korrigierte den Journalisten und meinte dass das die falsche Frage sei. Denn in Wahrheit würden Kinder und Jugendliche nun sehr viel lernen. Beispielsweise Eigenverantwortung und Selbständigkeit, sie würden die Bedeutung von Beziehungen viel deutlicher erfahren als andere und vieles mehr.

Ihr entscheidender Satz war: „Das müssen wir ihnen aber auch sagen!

Dieser letzte Satz ist entscheidend, weil er den Blickwinkel verändert. Weg von dem, was vielleicht einmal war, hin zu dem, was man aus dem Jetzt machen kann! „Es gibt nichts Schlechtes, was man nicht zum Guten wenden könnte“, sagt ein spanisches Sprichwort. Dass das gelingt, hängt von der Fähigkeit ab, den Blickwinkel verändern zu können.

Weisheit ist eine Frage des Blickwinkels

Wo das aber geschieht, wird es mit einem Mal heller. Dort, wo es bisher nur Abgründe zu geben schien, öffnen sich plötzlich Möglichkeiten. Dort, wo bisher der Verlust von Vergangenem beklagt wurde, wird auf einmal Gestaltung möglich.

Aus den gewohnten Vorstellungen heraus zu treten ist schwer. Es braucht dafür solch weitsichtige Menschen, wie diese Lehrerin, die ihre Aufgabe darin sehen, Freude am Da-Sein, an der eigenen Neugier zu vermitteln.

Weisheit ist ein Frage des Blickwinkels.

Das ist erstaunlich, leben wir doch in der Vorstellung, dass dazu besondere Fähigkeiten, Talente oder gar genetische Voraussetzungen notwendig wären.
Die Wahrheit ist viel einfacher:

Die Lehrerin ist selbst der Traum

Es geht um die Frage, wovon wir träumen und Worüber wir miteinander sprechen. Was also holen wir an die vorderste Ebene unseres Bewusstseins? Wovon immer wir träumen, das verkörpern wir auch. So wie diese Lehrerin, die einen Zuwachs an Fähigkeiten verkörpert. Verkörperung heißt, sie selbst IST die Botschaft einer möglichen positiven Zukunft. Sie selbst IST der Traum von einer Welt, die etwas lernt und die mit schwierigen Situationen umgehen kann. Denn sie erzählt keine Theorie, sondern aus ihrer innersten Überzeugung heraus. Der Schlüssel ist ihre Begeisterung.

Vorbild und Verantwortung

Diese Lehrerin hat eine großartige Antwort auf die Krise gefunden. Mit ihrer Haltung gibt sie Orientierung. Nicht nur den Kindern. Der veränderte Blickwinkel öffnet eine Tür, durch die Licht fällt. Sie übernimmt Verantwortung für die Zukunft von uns allen, indem sie von etwas spricht, was in der derzeitigen Diskussion konsequent übersehen wird.

Die Veränderung von Blickwinkeln und Perspektiven verlangt Anstrengung. Gerade deshalb sind Vorbilder, wie diese Lehrerin, in der aktuellen Situation der Lockdowns so wichtig. Denn sie ersparen vielen anderen, das Rad wieder und wieder neu erfinden zu müssen.

Und welchen Traum wollen wir verkörpern?

Man kann die aktuelle Situation als Frage verstehen, die das Schicksal an uns stellt. Fragen dieser Art richten sich an jeden von uns. Es kommt darauf an wie wir sie beantworten. Gelingt es uns, davon zu träumen, was wir jetzt gerade lernen? Denn niemals lernt man so viel, wie in Krisen. Träumen wir davon, wie das Erfahrene uns helfen wird Perspektiven zu entwickeln? Träumen wir vom künftigen Stolz darauf, es geschafft zu haben und persönlich etwas dazu beigetragen zu haben? Träumen wir vielleicht sogar davon, ein paar unliebsame Dinge hinter uns lassen zu können? Oder überlassen wir uns den Dämonen von Angst, Abwehr und Resignation?

Was immer es ist, es ist die Grundlage für unsere Zukunft und vor allem für die Zukunft unserer Kinder. Denn sie brauchen Erwachsene, die an eine Zukunft glauben.

 

Auch erschienen unter:
https://www.stadtdesmiteinanders.at/2021/04/13/unsere-traeume-schaffen-zukunft/