Gehen! Was gibt es Einfacheres? Man will von A nach B kommen und setzt sich in Bewegung. Über das Gehen selbst verschwendet man keinen Gedanken. Zu selbstverständlich erscheint es uns. Deshalb fällt es uns so leicht, nur noch das Wohin im Sinn zu haben. Das WIE entzieht sich der Aufmerksamkeit. Dennoch ist Gehen jene oft übersehene Kunst, die den Weg erst entstehen lässt. Wer etwas gestalten will oder aus einer Krise kommen möchte, muss in Bewegung bleiben und einen Weg gehen. Dem Gehen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ist deshalb unerlässlich.
Zu jenen, die das tun, gehören Wanderer. Wer wandert, richtet seine Aufmerksamkeit auf den nächsten Schritt. Erfahrene Wanderer wissen, dass die Aufgabe darin besteht, diesen nächsten Schritt zu machen.
Ein Pilger geht!
„A pilgrim walks“, sagte ein Pilger, als er gefragt wurde, was denn die wichtigste Lektion gewesen sei, die der Jakobsweg ihn gelehrt habe. Ein Pilger geht! Er geht nicht nur bei schönem Wetter, sondern auch wenn es regnet und stürmt, wenn es in den Bergen schneit oder wenn die Sonne unbarmherzig brennt. Er macht einen Schritt nach dem anderen. Indem er das tut, kommt er ständig weiter.
Er ist neugierig auf das, was da auf ihn zukommt. Hinter dem nächsten Hügel, im nächsten Dorf, am nächsten Tag. Und weil er der Welt mit Neugier begegnet, kann er den Weg als Abenteuer erleben. Das Hier und Jetzt ist ihm wichtig. Dieser eine nächste Schritt. Und dann wieder einer. Und dann noch einer.
Es geht um den Weg
Um das Ankommen geht es nicht. Das kommt von alleine.
In Wahrheit „besiegt“ man einen langen Weg nicht, ebenso wenig wie einen Berg oder eine Krankheit. Man kommt durch, wenn man jeden Augenblick als Aufgabe sieht und als Möglichkeit, etwas zu lernen.
Leicht ist das nie. Liegt der Fokus aber auf dem, was man gerade erlebt und wie es dann Schritt für Schritt doch weiter geht, verändert sich der Blickwinkel. Ist diese Fähigkeit erst einmal entwickelt, bleibt sie ein Leben lang erhalten.
Perspektive entsteht Schritt für Schritt
Wer sich auf diesen nächsten Schritt konzentriert, wird eine überraschende Erfahrung machen: unerwartet gewinnt man eine neue Perspektive! Man erkennt, wozu man fähig ist. Wie nebenbei wächst die Sicherheit. Das Selbstvertrauen nimmt zu, das tief empfundene Wissen, den Weg selbst gestalten zu können!
Deshalb heißt es, der Weg ist das Ziel!
Der Mangel an Vorbildern
Das Dumme ist nur, dass es uns da an Vorbildern mangelt. Ob Schule, Lehre oder Beruf, meistens geht es nur um das Erzielen von Ergebnissen. Das WIE ist nur selten von Interesse. Gibt es einmal Unsicherheiten, dann gibt es Lehrer oder Experten oder andere Wissende. Hilfe suchen wir viel zu oft außen – nicht nur dann, wenn das nötig ist.
Solche Hilfe ist wohlfeil. Aber verlässt man sich zu sehr auf sie, kann das zu einer Falle werden, die hohen Tribut verlangt. Denn dadurch bleibt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schnell auf der Strecke.
Beate Großegger, vom Institut für Jugendkulturforschung, berichtet, dass die Jugend heute zwar strebsam sei, aber auch wahnsinnig risikoscheu und kaum bereit, sich auf Unbekanntes einzulassen. Um eine Selbstetikettierung gebeten, würden sich die jungen Leute als „angepasste Generation“ bezeichnen.
Der eigenen Kraft vertrauen
Es wäre jedoch ein grober Fehler, nun zu glauben, dass das allein ein Jugendproblem sei. Nein, in der gesamten Gesellschaft ist der Glaube an sich selbst seit Jahrzehnten im Sinkflug. Das Vertrauen in die eigene Kraft zur Problemlösung schwindet. Nur wenige sind noch in der Lage, oder Willens, sich auf das Abenteuer einer Reise ins Unbekannte einzulassen.
Ein Virus eröffnet andere Perspektiven
Und jetzt hat uns ein Virus völlig unerwartet erwischt. Ganz so, wie ein plötzlich auftretendes Gewitter den Wanderer auf freiem Feld überrascht. Die Gelegenheit wäre jetzt günstig, die Qualitäten des Wanderers zu entwickeln. Nötig dafür ist eine Veränderung des Blickwinkels. Hin zu jener Haltung, die sich auch auf schwierige Situationen einlässt und sich durch Neugier, Problemlösung und Lernbereitschaft auszeichnet. Eine Haltung, die auf die Schritte achtet, welche den eigenen Weg erst entstehen lassen.
Wanderer, der Weg entsteht beim Gehen!
Der spanische Dichter Antonio Machado (1875 – 1939) beschrieb die Perspektive eines Wanderers in einem seiner berühmtesten Gedichte. Er selbst wusste wovon er sprach, denn sein Leben war vor und während dem spanischen Bürgerkrieg durchzogen von verschiedensten schweren Krisen persönlicher, politischer und wirtschaftlicher Natur. Hier das Gedicht, das mir selbst immer als Richtschnur gedient hat, auch in schwierigsten Zeiten:
Wanderer, es sind deine Spuren der Weg
und sonst nichts;
Wanderer, es gibt keinen Weg,
denn der Weg entsteht beim Gehen.
Beim Gehen entsteht der Weg,
und erst wenn du zurückblickst,
siehst du den Weg,
den niemals wieder du betreten musst.
Wanderer, es gibt keinen Weg
sondern nur Kielwasser im Meer.
(Der Artikel erschien auch in der "Stadt es Miteinanders":
https://www.stadtdesmiteinanders.at/2021/02/08/erst-beim-gehen-entsteht-der-weg/