Das Miteinander ist das zentrale Kernprinzip unserer Initiative „Stadt des Miteinanders“ in Tulln. Was „Miteinander“ ist, scheint auf den ersten Blick selbstverständlich. Aber was genau heißt Miteinander? Woran könnte man gelingendes Miteinander erkennen? Und wie tut man das?
Echtes Miteinander erkennt man an einem Klima gut nachbarschaftlicher Beziehungen: Gute Nachbarn ergänzen einander und unterstützen sich gegenseitig. Sie achten aufeinander und erkennen deshalb, wenn es dem anderen gerade einmal nicht so gut geht. Dann fragen sie nach, hören zu und sehen, ob sie etwas tun oder helfen können.
Das Wagnis, den anderen zu fragen
Ungefähr so ist das wohl jedem klar. Aber es zu tun, sich wirklich um den anderen zu kümmern, und bereit zu sein, ihn – wenn nötig – zu unterstützen, ist schon schwieriger. Es verlangt etwas Mühe – und Initiative.
Die mittelalterliche Geschichte vom Ritter Parzival zeigt, was die Hemmung Fragen zu stellen, anrichten kann. Parzival traut sich aus Höflichkeit nicht, den Gralskönig nach der Ursache seines Leidens zu fragen und er verliert deshalb alles.
Die Geschichte von Parzival und dem Gral ist vielschichtig. Zu Beginn ist der junge Ritter zu schüchtern. Er traut sich nicht zu fragen. Denn der König ist nicht nur viel älter, er hat auch einen viel höheren Rang. Deshalb wagt Parzival es nicht, sich danach zu erkundigen, wie es ihm geht und woher sein Leiden kommt. Er geht keine Beziehung mit dem König ein. Deshalb verliert Parzival den Gral.
Die Lehre des Grals
Der Gral galt im Mittelalter als das Symbol des erfüllten Lebens. Und er ist nur zu gewinnen - so sagt diese Geschichte - wenn man es wagt, echte Beziehungen einzugehen. Parzival begreift das erst viel später und wird dadurch am Ende doch noch der neue Gralskönig.
Das lässt sich auf unsere Zeit übertragen. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.
Einsamkeit: Todesursache Nummer eins!
Seit mehreren Jahrzehnten nehmen Stress, Misstrauen, Isolation und Einsamkeit zu. Untersuchungen zeigen, dass der Anteil positiver Emotionen in der Gesellschaft abnimmt, während der Anteil negativer Emotionen ansteigt. Die Verwendung des Wortes „WIR“ hat sich um 10% verringert, während das Wort „ICH“ um 42% zugelegt hat. Und die Folgen von Einsamkeit sind mittlerweile Todesursache Nummer eins geworden.
Dennoch sind menschliche Bedürfnisse gleich geblieben. Nichts ist uns wichtiger als Zugehörigkeit, Aufgehobenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Sinnhaftigkeit. Um eigenen Lebenssinn empfinden zu können, benötigen wir aber die unmittelbare Beziehung mit anderen.
Der Formationsflug der Wildgänse
Ein wundervolles Beispiel dafür, welche Bedeutung gelingende Beziehungen in einer Gemeinschaft haben, zeigen die Wildgänse in ihrem V-förmigen Formationsflug. Man kann sie manchmal über Tulln in dieser Formation fliegen sehen. Kein anderer Vogel fliegt höher oder weiter als Gänse.
Ihr Geheimnis ist das Miteinander!
Stets sind sie als Gemeinschaft unterwegs. Bei ihnen geht es darum, was sie gemeinsam erreichen können. Um Einzelleistungen geht es dabei nicht. Die erste Position wird ständig gewechselt. Es ist nicht die stärkste Gans, oder jene mit den meisten Kenntnissen, die vorne fliegt. Jede Gans übernimmt diese Position für kurze Zeit. Dann lässt sie sich wieder zurückfallen und eine andere übernimmt. So verteilt sich die Anstrengung eines langen Fluges.
Weiter hinten in der Formation wird Kraft gespart. Denn jeder Flügelschlag der vorausfliegenden Gans erzeugt einen Luftwirbel, auf dessen Aufwind die dahinter fliegende Gans reitet. Sie lässt den Aufwind die Arbeit machen und verbraucht so nur einen Bruchteil ihrer eigenen Kraft.
Unsere Ahnen: Meister des Miteinanders
Zudem kommunizieren die Gänse ständig miteinander und wissen immer genau über den Zustand aller anderen in der Gruppe bescheid. Sollte einer Gans trotzdem die Kraft ausgehen, wird sie stets von ein paar anderen begleitet, die sich mit ihr zurückfallen lassen. Später helfen sie ihr, den Anschluss wieder zu finden.
Auch die menschliche Gesellschaft baut eigentlich auf dem Prinzip des Miteinanders auf. Wir Menschen ähneln darin den Gänsen. Zwar scheint es manchmal, als wäre das etwas in Vergessenheit geraten. Aber ohne enges soziales Miteinander gäbe es uns heute gar nicht. Wir sind nur hier, weil unsere Vorfahren Hand in Hand gearbeitet haben.
Es ist ein Zug unserer Zeit, dass der Fokus viel zu oft auf dem Trennenden liegt. Tatsache ist aber, dass sich unsere Vorfahren nur in Gemeinsamkeit über die Welt ausbreiten konnten. Wir tragen das Erbe jener in uns, die sich miteinander aufmachten. Wer das damals anders gesehen haben mag, ging unter. Er zählt nicht zu unseren Ahnen.
Wenn alle gewinnen
Tatsache ist, dass wir soziale Wesen sind. Um essenzielle Dinge, wie Sinn, Aufgehobenheit, Vertrauen und Zugehörigkeit empfinden zu können, brauchen wir Gemeinsamkeit und Miteinander. Je besser das klappt, umso besser fühlen wir uns als Individuen. Und je besser sich alle beteiligen, umso besser funktioniert die ganze Gemeinschaft. Das ist ein Kreislauf, bei dem alle gewinnen. Die Wildgänse machen es vor.
Siehe auch: https://www.stadtdesmiteinanders.at/2020/12/29/die-kunst-in-formation-zu-fliegen/