„Warum lassen sich die Leute das gefallen“, fragte Wolf Lotter mich in einem Interview, das wir vor einiger Zeit führten. Daraus entwickelte sich ein Gespräch über Leiden und Aushalten, an dessen Ende die Einsicht stand, dass die Natur des Menschen missbraucht wird.

 

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„Es ist schon klar, alle müssen etwas verdienen und ihre Familien ernähren.“ Aber das Leid an der Arbeit werde ständig größer. „Warum tun sie sich das an?“, fragte Wolf Lotter.

Tatsache ist, dass sich der Eindruck steigenden Leids verdichtet. Sicher, über die Arbeit gejammert wurde immer schon. Das hatte einen gewissen sportlichen Anstrich. Das Lamentieren gehörte vielerorts quasi zum guten Ton unter Kollegen.

Die Art der Klage hat sich aber ebenso verändert, wie ihre Gründe. Reglementierungen und Personalkürzungen verengen die Bewegungsfreiheit in bisher nicht gekannter Weise. Historisch stellt das ein vollkommenes Novum dar. So etwas gab es noch nie. (Wir werden an dieser Stelle zu einem späteren Zeitpunkt über diesen Punkt referieren)

Längst wird nicht nur die Leidensfähigkeit von Mitarbeitern strapaziert. Neueren Studien zufolge treffen über 70% aller deutschen Führungskräfte keine Entscheidungen mehr. Warum? Weil sie sich nicht trauen! Sie verstehen auch nicht mehr, warum sie das, was sie da täglich tun, eigentlich machen sollen. Angst ersetzt Sinn, der früher vielleicht in ihrer Arbeit existierte.

Lange Zeit schien es so, als würden die Betreffenden in innere Kündigung und Krankheit emigrieren. Nun hört man immer öfter, dass Menschen mit hoher Verantwortung einfach kündigen, sogar ohne eine Alternative zu haben. Sie halten es nicht mehr aus.

Die meisten aber harren aus.

Warum tun sie sich das an?

Unsere Natur mag keine Einsamkeit

Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir sind Rudeltiere. Allein sind wir nicht lebensfähig. Das führt beispielsweise in vielen zerrütteten Ehen dazu, dass es nie zu einer Scheidung kommt. Einfach deshalb, weil die Hölle die man kennt, besser zu ertragen ist als die Ungewissheit.

Warum geht man dann überhaupt eine Ehe ein? Weil sie Gemeinsamkeit verspricht! Gemeinsamkeit schafft Sicherheit und das Idealbild der Ehe ist eines voller gegenseitigen Vertrauens. Diese ideale Ehe erfüllt alle Bedingungen des natürlichen Gesellschaftsvertrages.

Der Wunsch nach Vertrauen und Sicherheit ist so groß, dass er mitunter stärker ist als jede Vernunft. In Extremfällen sogar stärker als der eigene Lebenswille.

Dieses Grundmuster menschlichen Verhaltens ist selbstverständlich auch in Unternehmen zu finden. Dem Team gegenüber, der Abteilung, vielleicht auch der Tradition eines Hauses fühlt man sich verpflichtet. Man erwartet Vertrauen und Sicherheit. Wird diese Erwartung enttäuscht, tritt die Hoffnung an ihre Stelle, es möge doch bald besser werden. Ist die Enttäuschung nachhaltig, wird die Ursache oft bei sich selbst gesucht.

Auf Seiten des Individuums liegt hier der Grund für viele Burnouts. Ihnen geht die Annahme voraus, noch immer nicht genug geleistet zu haben. Deshalb – so die Schlussfolgerung – sei man wohl noch immer keine Anerkennung wert. Abwertung führt zur Selbstentwertung. Der Burnout ist dann quasi der ultimative Nachweis dafür, das Äußerste gegeben zu haben.

In Gruppen kann das Gefühl nicht geschätzt zu sein zu äußerst schrägen Seltsamkeiten führen. Sie reichen von einem Lemming-gleichen Zug in den Untergang, bis hin zu einem Schwarz-Weiß-Wahn von der Art eines kollektiven Borderline-Syndroms.

Ein übermächtiges und einseitiges Narrativ

Ausgerechnet der menschliche Rudeltrieb behindert also die Verbesserung der Situation. Gestützt wird diese abnorme Situation durch ein mächtiges Narrativ.

Tatsächlich sind wir umgeben von einem solchen „Drehbuch“. Es fußt auf wenigen Kernbegriffen, wie „Wachstum“ und „Einsparungen“ und Varianten davon. Dieses Narrativ tritt mit einem massiven Wahrheitsanspruch auf. Es wurde in den letzten Jahrzehnten so mächtig, dass es keine Denkalternativen neben sich zulässt.

Für Menschen, die dieser Darstellungsweise der Welt ausgeliefert sind, egal ob Mitarbeiter, Führungskräfte oder auch Politiker, ist es folglich sehr schwierig, sich zu organisieren, Alternativen zu entwickeln und diese in den Raum zu stellen. Wer wagt es schon, offen gegen alle anderen aufzutreten – auch dann, wenn diese „Mehrheit“ nur in der eigenen Vorstellung existiert?

Zwar gibt es nichts Gutes, außer man tut es, aber es ist allemal leichter zu jammern, innerlich zu kündigen und mit dem Strom zu schwimmen als Verantwortung zu übernehmen. Um dann vielleicht als Held zu sterben – oder auf irgendeiner schwarzen Liste zu landen.

Fit für wen oder für was?

„Wollen Sie damit sagen, dass wir es hier mit Missbrauch zu tun haben“, fragt Wolf Lotter.

Aus dem Blickwinkel der menschlichen Natur und unserer Ausstattung als soziale Wesen ist darauf nur ein klares „ja“ möglich.

Dennoch ist dieser Befund kein Anlass für Niedergeschlagenheit. Im Gegenteil!

Die Zusammenhänge klar zu erkennen bildet die Grundlage für die Entwicklung fundierter und robuster Alternativen. Denn dabei wird es um die Frage gehen, wie eine Organisation zu einem Unternehmen werden kann, das sich für die Natur menschlicher Wesen eignet.