Warum fällt es eigentlich so vielen Führungskräften und Unternehmen derart schwer, das Klima in ihrer Organisation konstruktiv zu gestalten? Wo doch eigentlich jeder vernünftige Grund dafür spricht?

Aristoteles

 

Der Aristoteles-Effekt

 

Paul Margue unterrichtete Mitte der 70er Jahre Philosophie und Wirtschaftsgeschichte am Département de Droit et des Sciences Économiques an den Université de Luxembourg. Statt langer Definitionen führte er seine überraschten jungen Studenten gleich zu Beginn in das Wesen praktischer Philosophie ein.

„Aristoteles war ein großer Mann", so sagte er.Das Schlimme daran ist, dass nun 98% von Ihnen Aristoteles für den Rest Ihres Lebens für einen großen Mann halten werden. Nicht etwa deshalb, weil er das gewesen sein mag, sondern allein aus der Tatsache, dass ich als Professor hier vor ihnen stehe und ihnen das verkünde. Es ist ebenso traurig wie sicher, dass die meisten von Ihnen nie wieder darüber nachdenken werden, ob ich recht hatte.“

Wir Zuhörer waren gekränkt. Dennoch hatte Paul Margue recht. Denn es ist einfacher, den Worten einer Autorität unwidersprochen zu folgen, als eigene Gedanken zu fassen und gegen Widerstände zu vertreten.

 
Die Ursache der Systemträgheit

 

Ganz ähnlich argumentierte der renommierte österreichische Ökonom Stephan Schulmeister viele Jahre später, kurz nach der Wirtschaftskrise des Jahres 2008. Das Hauptproblem der Krise, so meinte er, sei nicht die Krise selbst, sondern die Tatsache, dass die Ausbildung in Betriebswirtschaft seit mehreren Jahrzehnten völlig einseitig sei. Die Ältesten unter diesen doktrinär geschulten Absolventen näherten sich nun dem Pensionsalter. Sie hätten mit ihrem Denken die Wirtschaftskrise verursacht. Ihr Leben lang hätten sie ihr Denken und ihre Überzeugungen nicht in Frage gestellt.

Dieses nun zu ändern würde zuallererst bedeuten, sich selbst einzugestehen, dass man sich sein Leben lang geirrt hätte. Das aber, so Schulmeister, würde eine fast übernatürliche menschliche Größe verlangen. Nicht der Mangel an Intelligenz, sondern die einseitige Ausbildung seien die Ursache der Systemträgheit. Weil man diese Generationen auch nicht kollektiv kündigen könne, würde die Krise noch lange andauern und nur ihr Gesicht verändern. Die historische Entwicklung seit 2008 scheint ihm recht zu geben.

 

Der Glaubensabfall der Sozialtechniker

 

Der Aristoteles-Effekt ist zwar im Falle solcher Doktrinen kein vernünftiges, aber doch ein allgemein menschliches Phänomen. Nur so ist es zu erklären, dass die Lehren richtungsweisender Sozialtechniker weiterhin befolgt werden, obwohl diese selbst ihren Theorien mittlerweile widersprechen.

Zu diesen Renegaten ihrer eigenen Theorien gehören beispielsweise Mike Hammer und James Champy, die Erfinder des Business Reengneering. Bereits in den 90ern widersprachen sie ihrer eigenen Theorie und gaben zu, dass 80-90% aller Reengeneering-Prozesse scheitern würden.

Noch klarer drückte es Jack Welch aus, der Erfinder der unseligen 20-70-10-Theorie, nach der jährlich die 10% Minderleister (oder „Zitronen“) zu kundigen seien. 2009 wich er von seiner Idee ab und nannte sie wörtlich „eine dumme Idee“.

 

Was zu tun wäre ist seit langem bekannt

 

Interessant ist, dass die Alternative seit langem bekannt ist.

Bereits 2007 veröffentlichte die Beratungsagentur Boston Consulting eine Untersuchung, in der Tausende Top-Führungskräfte in den Industriestaaten darüber befragt wurden, was ihrer Meinung nach in Zukunft die wichtigsten Herausforderungen für Unternehmen wären.

Die Antwort fiel eindeutig aus: Steigerung der Attraktivität der Arbeitsplätze und ihre Hinwendung zu menschlichen Grundbedürfnissen. Ein Klima müsse geschaffen werden, das junge Talente anziehe und erfahrene Ältere im Unternehmen halte.

Alles spricht also dafür, attraktive Unternehmenskulturen zu entwickeln. Ein Klima zu schaffen, in dem Leistung Freude macht und wo das Miteinander regiert. Eine Atmosphäre, in der Loyalität von selbst entsteht und gegenseitige Unterstützung die Norm ist.

 

Gute Gründe für eine Änderung des Denkens

 

Gute Gründe dafür gibt es genug:

  • Der Schaden, er durch mangelndes Engagement entsteht, erreicht astronomische Höhen. Allein für Deutschland ermittelt der globale Engagement-Index eine gesamte Schadenssumme von rund 250 Milliarden Euro. Jährlich!

  • Akuter Sinnverlust in der Arbeit quält nicht nur Mitarbeiter, sondern auch eine steigende Anzahl von Führungskräften. Viele von ihnen ziehen sich nach innen zurück und stecken ihre Mitarbeiter mit ihrem Sinnverlust an. Manche ziehen die Konsequenz und steigen einfach aus. Ihr Wissen geht dem Unternehmen verloren.

  • Es wird immer schwieriger, qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen. Nach der langen Zeit der Baby-boomer reißt nun die demographische Lücke auf. Es gibt zu wenige junge Nachwuchs-Arbeitskräfte. Vor allem im qualifizierten Bereich. Deren Real-Qualifikation, so klagen viele Arbeitgeber, wird gleichzeitig immer schlechter.

  • Die Generation der Millenials hat andere Interessen, als die Generation ihrer Väter und Mütter. Nicht Gehalt, sondern ein gedeihliches Miteinander im Unternehmen steht für sie im Mittelpunkt.

  • Zu erwähnen bleibt noch, dass uns viele natürliche Ressourcen ausgehen, die uns zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Die verschiedenen Peaks (peak oil, peak gas, peak man, peak fish, peak soil, etc.) treten alle nahezu gleichzeitig auf. Sie werden massive Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft erzwingen.

Ob man es will oder nicht, wir werden umdenken müssen. Wer den Aristoteles-Effekt kennt, tut sich leichter, die Systemträgheit rechtzeitig zu überwinden.