Entscheidend für Expertise ist das Erkennen von Mustern. Sie sind deshalb schneller und präziser in ihren Urteilen und Entscheidungen. Expertise braucht Erfahrung. Sie kommt aus früheren Erlebnissen. Auf ihrer Grundlage urteilen Experten. Was heißt das für Führungskräfte, wenn sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern?
Ich habe 30 Jahre gebraucht, um über Nacht berühmt zu werden! Dieser Satz stammt von Harry Belafonte. Erfolg kommt nicht von allein und vor allem ist er kein Zufall. Egal ob in Sport, Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft: Andauerndem Erfolg liegt immer Erfahrung zugrunde, die sich in treffsicheren Routinen verankert hat.
Das Gehirn ist ein Organ, das stets versucht Energie zu sparen, erklärt der Neurophysiologe Manfred Nagl von der Donau-Universität Krems. Das ist unbedingt notwendig, denn der menschliche Denkapparat benötigt schon im Ruhezustand ein Viertel des physiologischen Energiebedarfs. Schimpansen und Gorillas verbrauchen nur 8-10%, andere Säugetiere gar nur 3%.
Für Menschen ist dieses Organ also sehr teuer. Der Sparmodus ist lebensnotwendig. Sonst wären wir gar nicht in der Lage ausreichend Nahrung aufzunehmen.
Routinen sind der Sparmodus des Gehirns
Wie das funktioniert, zeigt ein Test mit Schach-Großmeistern, der erstmals von Adriaan de Groot beschrieben worden ist (1946):
Man legte Großmeistern Zettel mit dem Bild einer bestimmten Schach-Situation vor. Nach fünf Sekunden mussten sie diese Situation aus dem Gedächtnis auf einem realen Brett aufstellen. Das konnten sie gut. Erwartungsgemäß waren sie besser als gute Amateure oder Anfänger.
Wurden jedoch nicht reale Spielsituationen, sondern zufällige und unmögliche Konstellationen der Figuren vorgeführt, waren Großmeistern nicht besser als Anfänger.
Die Analyse ergab, dass alle Menschen – unabhängig davon, ob Experte oder nicht – sich rund sieben Elemente einer beliebigen Situation merken können.
Der Unterschied liegt in dem, was unter „Situation“ zu verstehen ist. Für Anfänger sind das einzelne Elemente. In diesem Bespiel also etwa die Position von etwa sieben einzelnen Schachfiguren. Gute Amateure merken sich Gruppen von 3-5 Figuren – sogenannte Cluster.
Experten hingegen haben nach rund zehn Jahren Erfahrung bis zu 100.000 Muster (=Spielsituationen) in ihrem Gehirn abgespeichert. Diese sind bei Bedarf abrufbar. Für Großmeister besteht also ein Cluster aus dem gesamten Brett! So kommt es, dass sie eine komplexe Spielsituation auf einen Blick erfassen können.
„Expertise ist der Energiesparmodus des Gehirns“, sagt Manfred Nagl dazu.
Routinen gelten immer nur in ihrem Rahmen
Das hat allerdings auch einen Haken: Ändert sich die Situation so, dass sie zu keinem abgespeicherten Muster passt, entgleist die Expertise und kann sogar zum Hemmschuh werden.
Denn während der Laie sich unvoreingenommen ein paar Figuren merkt und gar nicht erfassen kann, was er da tut, sucht das Gehirn des Großmeisters fieberhaft nach bekannten Mustern. Das kann ihn sogar hinter einen Laien zurückwerfen.
Dieses Ergebnis lässt sich vereinfacht in drei Punkten zusammenfassen:
- Wer bereits weiß, wie etwas geht, verbraucht keine Energie mehr!
- Allerdings nur solange die Rahmenbedingungen stabil bleiben!
- Wenn die Rahmenbedingungen sich ändern, trägt es Experten aus der Kurve.
Dies gilt nicht nur im Schach sondern überall. Das zeigen sowohl Psychologie, als auch Neurophysiologie.
Die interessante Frage ist, was das bedeutet, wenn sich Rahmenbedingungen in einer Gesellschaft ändern. Wenn also weite Teile dessen, was als sicher angenommen wurde, an Gültigkeit verlieren. Was passiert also mit bisherigen Expertisen, wenn sich Rahmenbedingungen verändern und andere Grundlagen schaffen?
Lösungen suchen oder Schlagzahl erhöhen?
Die Antwort ist, dass dann Orientierungslosigkeit eintritt, wenn gewohnte Antworten ins Leere gehen und der gewohnte Erfolg ausbleibt.
Auf zwei Arten kann darauf reagiert werden. Manche werden nun einfach ausprobieren, ob etwas anderes funktioniert. Sie akzeptieren Veränderungen von Rahmenbedingungen. Das gilt auch für viele Führungskräfte. Sie leiden unter der allgemeinen Orientierungslosigkeit und begeben sich auf die Suche.
Andere wiederum versuchen die alten Rahmenbedingungen unter steigendem Energieaufwand am Leben zu erhalten. Sie gehen von der Unveränderlichkeit der Rahmenbedingungen aus und verstehen deshalb nicht, dass die Welt sich weiterdreht. Anstatt etwas zu ändern, erhöhen sie die Schlagzahl und verfeinern bestehende Methoden. Menschlich ist das verständlich. Denn es ist nicht leicht sich selbst einzugestehen, dass das, an was man bisher unverrückbar geglaubt hat, plötzlich seine Gültigkeit verloren haben soll. Es verlangt menschliche Größe und persönliche Reflektiertheit um seine eigene Expertise in Frage stellen zu können und noch einmal vorn vorne zu denken zu beginnen!
Wenn die Spielregeln sich ändern sind andere Antworten nötig
Genau in dieser Situation befinden wir uns. Jeden Tag ist es zu beobachten. Da warnt kürzlich die OECD vor den Folgen des zusammenbrechenden Engagements in der Wirtschaft. Das ist an sich nichts Neues. Aber flugs tritt nun der Sozialexperte einer Standesvertretung der Wirtschaft vor die Medien. Er gehört offenbar zu den Experten der zweiten Kategorie. Denn er erklärt einem hörbar verblüfften Nachrichtensprecher, dass die Zufriedenheit in den Betrieben sehr gut, die Produktivität hoch und die Lage in anderen Ländern viel schlimmer sei. Für die miese Stimmung sei die Wirtschaft schon deshalb nicht verantwortlich, weil Menschen nur 10% ihrer Lebenszeit in der Arbeit verbrächten, also weniger als mit dem PC oder dem Fernsehen. Unternehmen könnten auch nicht ins Privatleben der Mitarbeiter eingreifen. Für ihn stimmen die Zahlen, also sei alles paletti.
Weder die betriebswirtschaftliche Relevanz der Warnung, noch die Auswirkungen auf die Innovationskraft und Flexibilität der Unternehmen sind diesem Experten bewusst. Er bemerkt nicht, dass er dabei die direkten und indirekten Kosten übersieht, welche durch Mangel an Engagement, durch Demotivation, Enttäuschung und Loyalitäts-Schwund bereits heute entstehen. Ihm entgeht, welche Bedeutung all das vor dem Hintergrund von Peak Man hat, also dem Rückgang der Bevölkerung. Er sieht auch nicht, dass es sich dabei nicht um Meinungen, sondern um Hard-Facts handelt. Genau so wie Peak Oil, Peak Gas, Peak Soil, und all den andern Peaks, denen wir uns in allernächster Zukunft stellen müssen. Das macht Umdenken unausweichlich. Je früher man das schafft, umso besser – je länger man wartet, umso schwieriger wird es.
Um im Bild des Schachmeisters zu bleiben: die Regeln des Spiels ändern sich gerade vor unseren Augen. Würden sich Schach-Regeln ändern, müssten auch Großmeister ihre Routinen überdenken. Nibelungentreue zu überholten Ansätzen hingegen würde keine Probleme lösen, wohl aber den Meistertitel kosten.